Leo - sein langer Weg ins Vertrauen

In unserer Einfamilienhaus-Stadtgegend sind viele Freigänger unterwegs, mit der Zeit kannte ich wohl alle. Ein blaugrauer, mir bis dahin unbekannter Kater fiel im April 2014 auf, weil er sich immer häufiger scheu unter die Hecke schlich, um nach dem wenigen Igelfutter zu suchen.
Meine fünf Katzen kamen recht gut mit ihm aus, Leo deeskalierte in Begegnungssituationen, obwohl er sich auf anderen Grundstücken hörbar prügelte.

Es gab keine Vermißtenmeldungen im Umfeld, die auf ihn passten, doch vielleicht war der Halter verreist oder erkrankt und konnte sich nicht kümmern, der Kater womöglich gechipt oder tätowiert und bei Tasso registiert? Ein blauer Kater mit grünen Augen ist selten und er sah zumindest nach Rasse-look-alike aus, so einer wird doch bestimmt vermißt?
Zwecks Kennzeichnungsüberprüfung müßte ich aber näher rankommen und dazu im Vorfeld Vertrauensbildung üben, mich mit ihm beschäftigen. Wenn ich es nicht mache, wer macht es dann, wer sorgt sich um ihn?
Im Umfeld war er unbekannt und er fraß nach Möglichkeit die Mengen einer "Vollfutterversorgung", das konnte kein"erbeutetes Zufutter" sein. Er sah unkastriert aus und das hätte ich auch gern geändert, um einerseits die mögliche weitere Vermehrung des herrenlosen Katzenbestandes durch ihn zu verhindern und um die typischen, heftigen Kämpfe zwischen unkastrierten Katern (in dem Fall Leo) und den kastrierten Freigängerkatzen zu beenden.

Als sein Blick und meiner sich trafen, war die Frage beantwortet. Ein Versprechen ohne Worte von Seele zu Seele, ich helfe ihm. Seine Augen hatten den für Streuner häufig so typischen Blick, ein Mix aus verletzter Seele, Einsamkeit, Not und der Bitte um Hilfe. Freigänger schauen anders. Man mag es als Vermenschlichen ansehen, doch ich glaube, wer mit solchen Katzen zu tun hat, weiß was ich meine. Diese Streuner suchen eine Brücke aus ihrer Situation heraus, begleitet von Scheue bis Angst. Oft genug belastet von negativen Erfahrungen mit Menschen.
Leo hat mein Herz seit dem ersten Blick in seine Augen so berührt, dass ich immer an ihn geglaubt habe - ohne rationalen Grund, rein aus Gefühl, das war die Brücke, die Leo gebraucht und genutzt hat.

Also folgte zunächst die Fütterung bei Sichtung, damit weder andere Katzen, noch Waschbären mitfraßen. Nur wenn ich daheim war und meine Katzen draußen, kam ein Napf für meine und ihn vor die Tür, sonst meldete ihn die Katzenklingel. Leider meldete die Klingel auch jede andere Katze, den Fuchs, Waschbären,... ich bin über viele Monate meist nachts auf dem Sofa geblieben, da war der Weg zur Tür kürzer. Mein Schlafpensum litt erheblich.
Leo kam abends, nachts oder frühmorgens, eine feste Zeit hatte er leider nicht. Er mied alle Menschen. Der Kontakt zu mir blieb auf Distanz, er kam, wartete und kaum öffnete ich die Tür, zog er sich meterweit zurück. Erst wenn der Napf vor die Tür gestellt wurde und diese von innen hörbar verriegelt, kam er die Treppe wieder hoch und fraß eilig.
Leo kam täglich mehrmals, schlief auch tagsüber stundenweise im Garten, aber seinen "richtigen Schlafplatz" hat er anderswo gehabt, er lief immer die gleiche Strecke zurück und kam von da her - nur wo genau, ließ sich nicht finden, kaum einer sah ihn, keiner kannte ihn.
Es dauerte viele Monate bis die Distanz zwischen uns merklich kleiner wurde. Mittels Wildtierkamera habe ich Leos Besuche und seinen Zustand festgehalten und in seinem LeoTagebuch dokumentiert. Immer wieder kam er mit Verletzungen und teils sehr heftigen Bißwunden.
Um den Jahreswechsel 2015/16 hatte er eine größere Wunde am unteren Rücken und konnte einige Wochen den Schwanz nicht heben, er hing zunächst tagelang schlapp herunter, dann besserte es sich allmählich. Dies und der zunehmende Druck durch weitere zugezogene Freigängerkatzen und vor allem einen unkastrierten Freigängerkater mit beratungsresistenten Haltern aus dem Umfeld (jener Kater griff leider selbst die auf den Grundstücken jeweils ansässigen Katzen heftig in deren Revieren an und hinterließ tierärztlich behandlungsbedürftige Bißverletzungen), machten ein Einfangen mit Kastration und Zähmungsversuch immer dringlicher.
Nach der mittlerweile jahrelangen Futterversorgung vor der Haustür, in der ich alle Grenzen Leos respektiert habe, konnte ich ihn zu meiner Erleichterung im Februar 2016 zunehmend am Kopf und dann auch Nacken berühren, er hat diese kurzen Streicheleinheiten sichtlich genossen, traute sich und der Situation aber nie recht und hat sie von sich aus jeweils durch Rückzug beendet. Das Berühren und kurz „Packen“ im Nacken habe ich dann ganz bewußt ausgeübt und ihn zunehmend daran gewöhnt, bis ich ihn dann eines Tages richtig packen konnte, blitzschnell in den Eingangsraum zog und die Haustür zuwarf.

Er versteckte sich sofort, fauchte, wurde "wild". Ein großer Nachteil des Eingangsraumes war dessen Einrichtung mit Terrarien und zahlreichen unbeabsichtigten Verstecken, die ich nicht alle verstopfen konnte. Mit Hilfe einer erfahrenen Freundin bekam ich Leo schließlich in eine Box, dem voraus gab es eine Jagd durch den Raum, aus den Verstecken immer wieder rausscheuchen, er ging zwischendrin Wände und Fenster hoch, bis er müder war und mittels Laken gefangen werden konnte. Zuvor hatten wir die Box durch Fallenlassen auf Festigkeit geprüft. Sie hatte eine Klappe oben und eine vorn, das erleichterte das Handhaben beim Tierarzt. Leo tobte und knurrte in der Box, deshalb wurde er noch in der Box sediert und dann untersucht. Weil sich kein Chip finden ließ, bekam er einen, wurde kastriert, ein Zahn gezogen und Zahnstein entfernt.

Nach der Rückkehr vom Tierarzt bezog er den Eingangsraum und ich benutzte erstmal den Nebeneingang, damit die Haustür geschlossen blieb. Erst versteckte er sich nur, dann wurde er wieder zugänglicher, aber nur "mit langem Arm anfassen am Kopf". Jeden Tag setzte ich mich zu ihm rein und las ihm vor, ihm schien das völlig gleichgültig zu sein. Federwedel fand er richtig doof. Damit konnte ich also keine Berührungen üben.
Die Hormone liessen mit den Wochen nach, er roch weniger streng und markierte weniger, maunzte aber nachts und auch sonst, hatte Langeweile - logisch, draußen war der Tagesablauf erfüllt, drinnen gab es, außer aus dem Fenster gucken, nichts zu tun.
Also wollte ich eine Gittertür einbauen, damit er Kontakt zu meinen Katzen bekam und auch mehr vom Alltag im Haus miterleben konnte. Als mein Vater mir half die Türangeln für die Gittertür in die Wand zu befestigen, mußten wir Löcher bohren. Beim Bohrgeräusch raste der Kater aus seinem Versteck, ging wieder die Fenster und Wände hoch, um schließlich in ein anderes Versteck zu verschwinden. Daraufhin bekam ich zu hören "was du machst ist Tierquälerei, lass ihn raus, das ist nichts für ihn" und das kann ich nachvollziehen, es ist nur zu kurz gedacht. Der Kater sollte mit dem Drinnen erstmal richtig vertraut sein, bevor er die Wahl "drinnen oder draußen" bekam. Noch war das Drinnen ungewohnt und löste Angst aus, also wäre die Wahl gar keine gewesen, er hätte sich für die vertraute Welt entschieden, in der er sich auskannte, die jahrelang seine Heimat war: Draußen.
Doch Draußen hätte auch die tierärztliche Versorgung erschwert, wenn sie eines Tages wieder nötig werden würde, ein erneutes Einfangen wäre schwierig geworden.
Mit Gittertür wurde des Katers Alltag besser und nach wenigen Wochen konnte ich sie öffnen, denn Leo hörte auf zu markieren. Der Kater lief mit meiner Katzengruppe mit, bekam Alltagsroutine, traute sich immer mehr und war kein Angstkater mehr im Haus, auch wenn er natürlich meist Abstand zu mir hielt. Es gab auch Momente, da wollte er auf Armlänge berührt werden oder warf sich sogar vor mir hin, um geflauscht zu werden.


Dann überließ ich ihm die Wahl, wieder raus zu ziehen oder drinnen mit Ausgangszeit zu leben. Er ging eines Abends mit den anderen raus in den Garten und kam tatsächlich freiwillig auf Klingelton mit den anderen zurück! Er hatte gewählt, drinnen leben! Ich war so gerührt und habe mich unfassbar gefreut, es lässt sich unmöglich in Worte fassen, so ein Geschenk!
Die ersten Wochen hatte er Mühe mit der Türschwelle, da musste die Eingangstür und die Tür zum Flur dahinter offen sein, damit er durchrennen konnte, sonst traute er sich nicht. Aber seine Wahl war "drinnen leben". Das hätte er die ersten Wochen so nicht entschieden, weil er rein aus Angst das Bekannte gewählt hätte, also draußen.
Nachdem weitere Monaten vergangen waren, wurde Leo zum Schmusekater, der sich in meinen Arm einkuschelte. Eindeutig war er also in Menschenhand aufgewachsen, auch wenn er lange draußen auf sich gestellt gewesen ist. Angesehen hätte ihm das früher niemand. Er war "wild".
Tierarzt-Besuche sind auch heute noch ein Drama, untersuchen geht nur mit Sedierung oder mit einem sehr geübten und einfühlsamen TA /TA-Helfern, Medizingaben läßt er sich mittlerweile von mir gut gefallen, nur anfangs hat ihm das seelisch sehr zugesetzt.
Natürlich ist Leo durch sein Vorleben geprägt, er hält Distanz zu jedem Menschen außer mir. Sobald er draußen eine Frauenstimme in bestimmter Klangfarbe oder Kinderstimmen hörte, knurrte Leo noch jahrelang und lief ins Haus, versteckte sich teilweise bis in seinen Safe-Platz, unters Bett, hinter die Bettkästen. Wenn ich für die Katzen Spielbälle warf, flüchtete Leo sofort. Mit bestimmten Menschen und mit geworfenen „Dingen“ hatte er also richtig schlechte Erfahrungen gemacht.
Sein Vorleben hat tiefe Spuren hinterlassen und so heißt es immer wieder Brücken bauen, die er dann nutzt.
Ja, er ist ein Einzelfall, aber sind sie das nicht alle? Jedes Fell ist individuell. Keiner konnte vorher ahnen, was ihn ihm steckt, dass er drinnen glücklich sein kann, es sah nach dem Gegenteil aus. Nur über 3 Monate zwangsweise Einsperren mit angepasster Zuwendung sind wir dahin gekommen.
Es hätte auch anders laufen können, ich hatte schon eine wetterfeste Hütte für draußen gekauft, ihn auf den Surefeed mit Chip trainiert, alles für den Fall, daß er am Ende draußen leben möchte.
Doch wie soll eine Katze, die vielleicht mal vor den Menschen nach draußen geflohen ist oder die sich einfach jahrelang draußen durchschlagen mußte, sich anders verhalten als ängstlich, scheu und wild, wenn sie plötzlich drinnen festsitzt? Dass sie nach draußen fliehen möchte ist klar, denn da kennt sie sich aus. Drinnen ist sie ausgeliefert und durch die Angst muß sie erstmal durch. Das ist nicht schön, aber nur so kann man ihr die Chance auf ein versorgtes Leben drinnen oder mit Ausgang überhaupt geben. Vertrauen muß verdient werden und das braucht Zeit, Ruhe, Routine und Geduld.

Es bricht mir das Herz, dass ein Kater, der vom jetzt gezeigten Verhalten her eindeutig mit Menschen aufgewachsen ist, Vertrauen zu ihnen hatte und sehr wahrscheinlich einen guten Start hatte, danach durch andere Menschen so in ein "wildes Leben" als einzigen Ausweg gestürzt ist, dass er zum Wildkater, zum Streuner mutiert ist, so sehr, daß ihn auch Kenner anfangs eher als "kann nur draußen glücklich werden" eingestuft haben.
Noch heute reagiert Leo auf "komische Geräusche/ bestimmte Menschen draußen" mit drinnen bleiben bzw. von draußen reinflüchten.
Zu mir hat er eine tiefe Bindung und großes Vertrauen entwickelt - er kuschelt sich in meinen Arm, wühlt sich am Hals unter die Haare und ist sehr schmusebedürftig, fordert seine Rituale auch mehrfach täglich ein.
Er hat dabei so viel Liebe zu geben und oft weiss ich nicht, wer eigentlich wen mehr beschenkt, er ist so ein Schatz!
Aus dem scheuen, blaugrauen Streuner mit den grünen Augen wurde Leo BlueHeart von der Rosenhöhe.

Ich wünsche mir, dass seine Geschichte nachdenklich macht und dabei hilft, nicht gleich jede scheue, wilde Katze als "kann nur draußen bleiben" einzuordnen.
Es gibt sie, jene, die einfach nicht früh genug mit Menschen guten Kontakt hatten und vielleicht nie Vertrauen zum Menschen aufbauen können, doch viele sind nur scheu und wild geworden, weil sie anders nicht überleben konnten. Mit Geduld, Einfühlungsvermögen und Respekt können sie den begleiteten Weg zurück in ein behütetes Leben finden.

Jede Katze hat ihre Chance verdient.

 

Fotos

anfangs hatte ich kaum eine Chance Leo zu fotografieren, die ersten Aufnahmen von April 2014 sind kaum zu erkennen, das war aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo Bonny Leo verfolgte

August 2014

 

Oktober 2014

 

2015



via Wildtierkamera: nach einer Futterzeit, nix wie weg von der Tür


2016

ein letztes Foto draußen, noch mit „Hängeschwanz“ nach Bissverletzung

hier ist Leo schon ein paar Tage drinnen, aber noch separiert und scheu
 

ein recht entspannter Leo, der schon mit der Gruppe mitläuft und im ganzen Haus unterwegs ist

Kartons sind toll, dieser war die Beigabe zum neuen Kratzbaum im Eingangsraum, der alte war zu sehr von Leo markiert worden

 

und wieder draussen... ganz freiwillig nur stundenweise (die Leine gehört zu Vicky)

 

beim Fernsehen eingeschlafen


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draussen ist immer noch schön – zeitweise!